[DE] System auf dem Prüfstand
2018 schrieb sich meine Frau an der Fernuniversität Schweiz ein, da sie sich seit ein paar Monaten mehr und mehr mit der Betreuung von Flüchtlingen und Kriegsopfern auseinandergesetzt hatte. Sie stellte in Frage, ob sie ihre Arbeit, die ihr im Grundsatz viel Spass machte, auch für die nächsten Jahre mit der gleichen Hingabe ausführen könnte, oder ob es Zeit wäre, sich zu verändern.
Psychologie war immer ein Thema, das sie sehr spannend fand und aktueller denn je ist. Leider sind in unserer heutigen Zeit immer noch hunderte und tausende von Menschen auf der Flucht. Sie verlassen ihre Familien, brechen auf in unbekannte Länder und wissen nicht, was sie erwartet. Sie haben falsche Erwartungen und im schlimmsten Fall hinterlässt die Reise in ein fernes Land, in dem sie in Sicherheit leben könnten, ein Trauma. Aus diesem Grund wollte meine Frau genau diesen Studiengang belegen, um solchen Menschen zu helfen. Dafür war aber eine Aufnahmeprüfung in 3 Fächern notwendig.
Als Familie haben wir sehr schnell die Entscheidung getroffen und waren uns einig, dass genau diese Leidenschaft an einer Sache der wesentliche Punkt ist, um wirklich gut in seinem Job zu sein.
Auch meine Aufgabe war relativ einfach und klar: Kümmere dich um unsere Tochter, so dass meiner Frau die nötigen Freiräume zum Lernen hat. Klingt nach einem einfachen Plan.
Doch brechen wir mal den gesamten Plan in einzelne Teile herunter, so bedeutet es, viele Entscheidungen zu treffen:
Was gibt es an den Wochenenden zu essen?
Welche Lebensmittel muss ich zum Kochen einkaufen?
Wie kann ich unsere Tochter motivieren beim Kochen zu helfen oder sich alleine zu beschäftigen
An welchen Tagen muss ich unsere Tochter ins Kinderhaus bringen?
Wann muss ich sie von der Tagesmutter abholen?
Wann muss ich sie vom Kinderturnen abholen?
An welchen Tagen muss ich früher von der Arbeit nach Hause gehen, um ausserplanmässige Situationen abdecken zu können?
Wie organisiere ich meine Arbeit, wenn ich in der letzten Woche der Prüfungsvorbereitung 3 freie Tage brauche?
Wie grenze ich mich ab, wenn ich mit meiner Tochter zusammen spiele und berufliche Themen anstehen? Gleichzeitig muss ich Wege finden, wichtige berufliche Sachen zu erledigen, wenn ich mit privaten Themen konfrontiert werde
Fragen über Fragen und eine Entscheidung nach der anderen.
Vermutlich kann jeder nachvollziehen, dass es viel zu tun gab.
Und darf ich ehrlich sein? Diese Phase hat sich über einen relativ überschaubaren Zeitraum erstreckt. Aber genau diese Entscheidungen und Planungen müssen Mütter Woche für Woche aufs Neue treffen. Es wird von ihnen als selbstverständlich verlangt und durch ihre Routine machen sie das mit traumwandlerischer Sicherheit. Für Frauen soll es der Normalfall sein, sich um Familie, Kind und Mann zu kümmern. Und natürlich sollen sie sich selbst nicht gehen lassen. Sie müssen den Einkauf erledigen, das Kind optimal erziehen und ihm die beste Entwicklung zukommen lassen. Sie sollten beruflich erfolgreich sein, in allen Lebenslagen gut und sexy aussehen und immer lachen. Und natürlich sich noch die Sorgen von uns Männern anhören, wenn wir von einem ach so anstrengenden Arbeitstag nach Hause kommen.
In diesen letzten Wochen und Monaten, in denen ich wirklich viel qualitative Zeit mit meiner Tochter verbringen konnte, hat sich meine Beziehung zu ihr, sehr zum Positiven verändert und gefestigt. Es war sehr spannend zu erfahren, was sie beschäftigt, wie sie den Tag im Kinderhaus erlebt und mit welchen Sorgen sie sich beschäftigt. Wir haben viel mehr gelacht und ich habe sie öfter getröstet. Es war eine ziemliche Bereicherung, wenn gleich auch sehr anstrengend, da ich versucht habe, ihr die Stunden, die ich mit ihr verbracht habe, ohne Ablenkung zu verbringen.
Daher war ich auch weniger genervt, wenn sie an schwierigen Tagen einmal nicht "funktionierte". Sie hatte schlechte Nächte und zu wenig Schlaf, aber es war schön für mich, auf ihre Bedürfnisse einzugehen, weil ich erkannt habe, was ihr fehlt und was ich tun muss, damit es ihr besser geht. Und sei es nur eine kleine Umarmung.
Auch die Art, wie wir streiten, hat sich in dieser Zeit verändert und verbessert. Meine Tochter und ich können beide sehr impulsiv sein. Ich freue mich, hat sie so einen starken Charakter schon in solch jungen Jahren. Allerdings brauchen wir beide, wenn zu heftig diskutiert wird, eine kleine Auszeit. Meist gehen wir jeder für 5 Minuten in einen anderen Raum und beruhigen uns. Nach diesen 5 Minuten konnten wir wieder aufeinander zugehen und wieder respektvoll miteinander weitermachen. Das war nur möglich, weil wir in dieser Zeit nur miteinander verbracht haben und es keine Eskalationsstelle gab, die schlichtend eingegriffen hätte (was meine Frau sonst übernommen hätte).
Das Maximum an Aufmerksamkeit, die ich meiner Tochter zukommen lassen, sowie die Zeit, die ich meiner Frau zum Lernen geben wollte, stellte mein System oft auf eine harte Probe.
Immer wieder stellte ich fest, dass ich meiner Aufgabenplanung für den nächsten Tag zu wenig Zeit schenkte, dass ich aufgrund der reduzierten Arbeitszeit öfter zwischen verschiedenen Arbeiten hin- und hersprang und mich nicht auf eine Aufgabe fokussierte. Ich liess öfter zu, dass Aufgaben, die nach meinem Arbeitstag eingingen, meine Priorisierung beeinflussten.
Ich zweifelte an diesen Tagen sehr und es war dann wiederum nicht einfach für meine Familie, da ich gestresster war und mich nicht richtig auf sie konzentrieren konnte.
Mit einem guten System und Gewohnheiten, die Sie über Monate und Jahre aufgebaut haben, erkennen Sie jedoch sehr schnell, dass irgendetwas nicht rund läuft.
Rückschläge sind vollkommen normal. Sie reagieren auf diese Rückschläge in dem Sie Ihr Erlerntes wieder abrufen und umsetzten.
Meine Vorstellung von "produktiv zu sein" heisst, dass ich nicht mehr in der gleichen Zeit schaffen kann. Sondern dass ich die Aufgaben, die ich mir für den Tag setze, abarbeiten kann und ich mehr Zeit mit meiner Familie habe. Daher hatte ich auch mit keiner Spur ein schlechtes Gewissen, weil ich weniger präsent im Büro war. In meinem Beruf ist es mir möglich immer und überall arbeiten zu können. Basis war für mich aber, dass ich meine Arbeit gut organisiere. Meine Kollegen und Kunden habe ich frühzeitig informiert, dass ich in nächster Zeit weniger zur Verfügung stehe. Und es störte niemandem! Haben Sie kein schlechtes Gewissen, lassen Sie es sich auch nicht einreden - es ist nicht so dramatisch, wie Sie denken.
Unter allen Umständen sollte es Ihr Ziel sein, am Ende des Tages Ihre E-Mail-Inbox auf 0 zu bringen. Wenn Sie dies nicht konsequent durchziehen, werden in den weiteren Tagen mehr und mehr Mails auflaufen, die nicht korrekt verarbeitet werden und die dann vergessen gehen oder in Ihrem Posteingang vergammeln.
Nehmen Sie sich auch am Ende des Tages Zeit, die für den nächsten Tag wichtigsten Aufgaben zu definieren. An Tagen, an denen Sie weniger Zeit zur Verfügung haben, planen Sie nur eine Hauptaufgabe für den Tag. Aber setzen Sie diese auf jeden Fall um. Blocken Sie Ihre Zeit, in der Sie konzentriert arbeiten müssen im Kalender und schalten Sie alle möglichen Störfaktoren aus.
Auch mit weniger Zeit können Sie Aufgaben in guter Qualität liefern. Weniger Zeit heisst auch nicht, Dinge zu vergessen oder nicht prozessieren zu müssen.
Reduzieren Sie einfach etwas die Menge an Aufgaben für diese Phase und planen Sie auch Aufgaben, die ihr Projekt einen Schritt weiter ans Ziel bringen. Es müssen keine riesigen Schritte sein - auch kleine bringen Sie ans Ziel.
Das Leben ist so und es lässt sich nicht immer nach unseren Wünschen beeinflussen. Ihre Familie sollte das Wichtigste sein und das sollten Sie in Ihrer Planung berücksichtigen. Für mich war diese Phase sehr intensiv und ich vermisse es jetzt schon, dass meine Frau wieder die zentrale Anlaufstelle für unsere Tochter ist. Dennoch glaube ich, dass wir unser Band gefestigt haben und das macht mich stolz.