[DE] Wie mich meine Tochter lehrt produktiver zu sein und Prioritäten zu setzen

In einem Erziehungsratgeber habe ich erfahren, dass unsere Tochter das ist, was man als "gefühlsstarkes Kind" bezeichnet. Neben vielen grossartigen Charaktereigenschaften, über die unser Kind verfügt, hat ein "gefühlsstarkes Kind" jedoch immer den Drang, Nähe zu den wichtigsten Menschen, in dem Fall wir als Eltern, einzufordern. Und das, obwohl es einen genau so grossen Drang nach Unabhängigkeit hat. Diesen, im Kind herrschenden Konflikt, erfordert einen Erziehungsstil, der für die meisten Erziehenden etwas unkonventionell zu sein scheint.

Treffen die nachfolgenden Punkte auch auf Ihr Kind zu?

  • Mein Kind kann sich schon sehr lange alleine beschäftigen

  • Einschlafen ist kein Problem - eine kleine Geschichte und dann schläft es selbstständig ein

  • Mein Kind weint nie und hat keinerlei Wutausbrüche

Ja? Dann haben sie KEIN gefühlsstarkes Kind. Die beschriebenen Eigenschaften (es gibt noch eine Reihe weiterer Erkennungsmerkmale) treten bei rund 7 von 10 Kindern auf. Die übrigen 30% sind eher von der anderen "Sorte".

Als unser Kind auf die Welt kam, hatten wir unser Leben darauf eingestellt, dem Kind die bestmögliche Erziehung zukommen zu lassen - welche Eltern wollen das nicht. Wir haben uns organisiert, uns schlau gemacht und waren der Meinung, dass wir eh alles besser machen würden, als der Rest der Eltern.

Vor Kurzem sagte meine Frau, dass Sie schon seit ca. fünfeinhalb Jahren nicht mehr richtig geschlafen hätte. Merkwürdigerweise deckt sich das auch so ziemlich genau mit dem Alter unserer Tochter, inkl. der Schwangerschaft.

Was aber genau ist denn nun die Superkraft, die sie einsetzt, damit ich ein produktiverer Mensch bin?

Die Eigenschaft, dass sie sich nur kurz alleine beschäftigen kann und relativ schnell die Nähe eines Menschen sucht, der mit ihr Zeit verbringt, mit ihr spielt und ihr die volle Aufmerksamkeit zukommen lässt, die sie sich wünscht. Genau das ist ihre Superkraft und ich erläutere Ihnen auch gerne wieso:

Ein Blick auf's Telefon? Schon könnte das Kind irgendwo um die Ecke verschwunden sein. Halbherzig an einer Sache "mitwirken"? Sie würden sofort entlarvt werden und man würde ihnen sagen, dass sie nicht richtig dabei sind.

Ich habe gelernt, dass es, wenn es um meine Tochter geht, nur eine Lösung geben kann: Vergiss' alles andere - es ist in diesem Moment unwichtig, weil der ganze Fokus bei ihr liegen sollte. Sie lehrt mich, Dinge mit einem anderen Auge, mit einer anderen Sichtweise zu betrachten. Das setzt allerdings voraus, dass man sich auf sie einlassen muss.

Die Lernkurve, die ich eingeschlagen habe, war anfangs sehr sehr flach und sie stieg auch nicht an einem Tag sprunghaft an. Es war, und ist immer noch, ein stetiger Prozess, der mir manchmal gut und manchmal weniger gut gelingt. Oft haben wir deshalb Reibereien, weil sie der Inbegriff eines Perpetuum mobile ist.

Trotz der vielen Verpflichtungen, die ich im Beruf habe, komme ich bei meiner Tochter relativ schnell in den Fokus-Modus. Das Telefon liegt dann irgendwo in der Ecke. Nicht immer ideal, wenn mich meine Frau erreichen möchte. Mails, Chats und alle weiteren Störfaktoren sind eher sekundär und nur dann, wenn ich es bewusst zulasse, antworte ich darauf.

Sie lehrt mich auch, an Tagen, an denen ich weniger Zeit für die Arbeit habe, weil ich mich um sie kümmern muss, Prioritäten zu setzen. Wenn Ihr Tag zum Beispiel nur 7 Stunden hat, dann planen Sie in diesem Zeitraum die Aufgaben ein, die wirklich wichtig sind oder die Ihr Projekt voranbringen.

Momentan, dass gebe ich zu, ist es richtig hart und ich komme teilweise an meine Grenzen. Es gibt mitunter Phasen, bei denen Sie und auch ich sowohl privat, als auch beruflich, vollkommen präsent sein müssen. Überzeiten, Mehrbelastung, weniger Ruhephase etc., all das gehört zu unserem Leben und Sie sollten die wenigen Stunden, die Sie mit der Familie haben, nicht verschwenden, in denen Sie Ihre Gedanken auf das richten, was Sie gerade nicht tun.

Auch das funktioniert manchmal gut und manchmal weniger gut. Doch es wird immer besser, je mehr Sie trainieren.

Versuchen Sie es doch auch einfach einmal.

Legen Sie Ihr Telefon beiseite, wenn Sie mit Ihrer Familie Zeit verbringen. Vielleicht erst einmal nur eine Stunde, dann einen Nachmittag und dann mal an einem ganzen Wochenendtag.

Nutzen Sie Entspannungsmethoden, die Ihnen Ihr Kind aus einer Spiellaune heraus anbietet: Malen (oder ausmalen) - oder im Sandkasten spielen (Zen-Garten) - vollkommen kostenlos.

Sie werden sehen, wie die digitale Abstinenz Ihr Leben bereichern kann und Sie werden sich mit der Zeit immer besser fühlen, wenn Sie lernen, sich abzugrenzen.

Ihre Familie wird es Ihnen danken. Ihre eigene Gesundheit auch. Und damit auch Ihr Arbeitgeber und Ihre Kollegen, da Sie ausgeglichener, ausgeruhter und besser gelaunt sein werden.

Viel Erfolg.